Dienstag, 23. Juni 2015

Einbildung

Kein Bildungsbegriff erscheint mir so doppelsinnig wie der der Einbildung. Mit ihr verglichen, lassen sich Schulbildung, Ausbildung, Weiterbildung, Fortbildung und Allgemeinbildung kaum missverstehen. Selbst Bildung überhaupt, einschließlich Halbbildung, ist weniger umständlich einschätzbar als Einbildung. Die Floskel "Einbildung ist auch eine Bildung" dürften viele nicht ernst nehmen können; sie will auch in aller Regel ironisch verstanden sein.

Wie ein Gegensatzpaar wirken Einbildung und Ausbildung. Dass sie einander verhindern, ist ein nahe liegender Gedanke. Einbildung wird durch Ausbildung verhindert, weil Ausgebildete vieles über Dinge gelernt haben, über die man sich sonst leicht falsche Vorstellungen macht. Und Ausbildung wird durch Einbildung verhindert, weil Eingebildete leicht glauben, sie wüssten vieles, wenn nicht alles, ohne Weiteres besser.

Der Versuchung zur Besserwisserei unterliegen freilich nicht nur ungelehrte Phantasten. Gerade Leute mit einem Schul-, Lehr- oder Studienabschluss können auf ihren Bildungsstand und -status so eingeschworen sein, dass auch ihr blinder Fleck stattliche Ausmaße annimmt. Sie bilden sich leicht zu viel auf ihren zertifizierten Sachverstand ein, ohne noch irgendeinen offenen Horizont in den Blick nehmen zu wollen. Derart "fertig" mit Bildung, mögen sie zur Elite der Halbgebildeten gehören, als einäugige Könige unter Blinden.

Es bleibt auf keinem noch so kurzen oder langen Bildungsweg aus, sich auf alles etwas einzubilden. Wir können nicht anders, als, vermittelt durch mehr oder weniger disziplinierten Unterricht, zu einem Weltbild zu gelangen, das ein Geschöpf der Einbildung ist. Das Sammeln äußerer Eindrücke mündet nicht ohne ganz persönliches Zutun in ein einstweiliges Sinngebilde, das selbst die ausgezeichnetste Gelehrsamkeit noch den "dümmsten" Fragen auszusetzen hat, will sie sich nicht als heillose Torheit offenbaren.

Warum dann nicht gleich die Einbildung dem höchsten Bildungsbegriff zuordnen, der im Vorstellungsvermögen, in der Phantasie, eben in der Einbildungskraft besteht! Warum als Sinnbildner kein eigensinniger Künstler sein wollen statt ein allgemeingültiger Oberlehrer, sei es am Stammtisch, sei es im Audimax! Ja, warum nur?