Donnerstag, 18. Juni 2015

Arbeit

"Arbeit" – was ist das für ein Wort? Ein fast gleichklingendes gibt es im Lateinischen: "orbitas." Es bedeutet Verwaistheit. Der ähnliche Wortklang scheint Zufall zu sein. Was soll Arbeit denn auch mit Verwaistheit zu tun haben? Als verwaistes Gut pflegte man eine Hinterlassenschaft anzusehen, ein Erbgut. Ist Arbeiten etwa mit Erben vergleichbar? Eher ist doch wohl das Gegenteil der Fall: wer genügend viel erbt, braucht nicht mehr zu arbeiten. Irgendwie hört sich das eigenartig an. Als ob Arbeit etwas Lästiges wäre, wovon wir dank eines Erbes entlastet werden können. Nicht weniger eigenartig müsste einem dann der Gemeinspruch vorkommen: "Man lebt nicht, um zu arbeiten, sondern arbeitet, um zu leben." Demnach ist Arbeit kein echter, in sich sinnvoller Lebensinhalt, sondern eine lästige, aber notwendige Lebensbedingung.

Zugespitzt wird dieser Zusammenhang mit dem Bibelspruch: "Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen". So übersetzt Martin Luther den Vers 10b des dritten Kapitels des Zweiten Thessalonicherbriefs. Die griechische Vorlage dieses Teilverses enthält für Arbeit "ergon", die lateinische Übersetzung "opus". Den Wortsinn beider Ausdrücke gibt im Deutschen das Wort "Werk" am treffendsten wieder. Der Zweite Thessalonicherbrief zählt übrigens zu den unechten Paulusbriefen. Der kritische Bibelexeget Gerd Lüdemann nennt ihn sogar "die gröbste Fälschung des Neuen Testaments", im Gegensatz zum echten "Ersten Thessalonicher", den er als "ältesten christlichen Text" ausmacht. Der fragliche Ausspruch ging 1936 in die Verfassung der UdSSR ein, des "Arbeiterstaats", wo man infolgedessen ein unbedingtes Recht auf Leben nicht verlangen konnte. In der DDR war die gewissermaßen ebenfalls bibeltreue Rede von "Werktätigen" geläufig, die alle Berufe umfasste, außer Arbeitern also auch Bauern, Angestellte und Staatsdiener.

Im Englischen sind wahlweise "work" und "labor (auch: labour)" für Arbeit gebräuchlich. Hierzu fällt mir auf, dass das Fremdwort "laborieren" weniger an Arbeit als an Krankheit denken lässt. Je nachdem, woran wir laborieren, bekommen wir es mit Operierenden zu tun, mit Ärzten, die sich an uns durchaus werktätig zu schaffen machen, während wir selber die Operation bloß zu erdulden haben (lat. patiens = erduldend), in aller Regel noch nicht einmal bewusst mitbekommen. Bei "labor" wie bei "Arbeit" liegt offenbar ein stärkerer Akzent auf dem Aushalten von Leiden. Das "labor" zugrundeliegende lateinische Verb "labare" hat den Wortsinn: "Wanken unter einer Last". Wieder drängt sich mir eine Bibelstelle auf, diesmal ein Jesuswort aus dem Matthäusevangelium (Kapitel 11, Vers 28): "Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken."

Arbeit ist im Grunde Mühsal, zu der man, zum Beispiel als Sklave, gezwungen sein muss, um sie auf sich zu nehmen. Deshalb lassen Menschen schon seit langem nach Möglichkeit Lasttiere, seit jüngerer Zeit Maschinen sie verrichten. Ein Roboter ist, beim Wort genommen, ein künstlicher Knecht oder Fronarbeiter. Wo jemand im engen und strengen Sinn arbeitet, tut er das unter seiner Würde als Mensch. Ihm ist das Grundrecht auf eine Mindestversorgung verwehrt – ähnlich einem Waisenkind, das niemanden hat, der anstelle der Eltern sein Existenzminimum sichert. und dem zuzeiten höchstens unter derjenigen Bedingung eine Überlebenschance gegeben wurde, dass es in seiner Armseligkeit für schwere körperliche Arbeit zu gebrauchen war. Noch gehört ein solch schweres Erbe nicht überall der Vergangenheit an. Und das allen die leidige Arbeit ersparende Maschinenzeitalter ist noch kaum angebrochen. Kaum weniger bedenklich ist es außerdem.

QUELLEN
  • DUDEN Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache
  • Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch
  • Novum Testamentum. Graece et Latine
  • Lutherbibel
  • Lüdemann: Der älteste christliche Text. Erster Thessalonicherbrief
  • Lüdemann: Die gröbste Fälschung des Neuen Testaments. Der zweite Thessalonicherbrief